Würde. Ferdinand von Schirach hat Essays über Würde geschrieben. Die Würde ist antastbar, sie wird täglich angetastet, stellt er fest. Selbstbestimmung kommt in seinem Buch zur Sprache.
Aber ist Würde denn gleich Selbstbestimmung? Oder ist Würde die eigene Wertschätzung gegenüber sich selbst? Ist es eine Mischung aus Beidem? Geht das Eine mit dem Anderen Hand in Hand?
Und überhaupt, was ist Würde? Und wie tastet man sie an? Was soll dieser Würdebegriff bedeuten, mit dem alle um sich werfen wie mit Konfetti an Fasching?
Ich gebe zu, ich selbst habe mir bisher keine genaue Definition zurechtgelegt. Ich habe nie darüber nachgedacht. Heute will ich es tun.
Denn dieser Begriff ist ein abstrakter. Einer, dessen Grenzen verschwimmen. Und es ist vor allem ein Begriff, über dessen persönliches Verständnis sich die Wenigsten bereits ausführlich Gedanken gemacht haben. Kann man in diesem Fall überhaupt von einem großflächigen Konsens sprechen? Ist es nicht so, als würden wir behaupten, wir seien uns alle einig, dass die Fenstereckschraube ASSY 3.0-FES den Fensterbau revolutioniert habe?
Denn ja, jeder empfindet seine Würde anders, definiert sie anders, und ja, keiner weiß genau wie, weil er bisher selten im Begriff war, sie zu verlieren. Was wir für selbstverständlich halten, was wir für unanfechtbar und unangreifbar halten, hat in unseren Gedanken keinen Platz. Es ist einfach da. Bis es irgendwann nicht mehr da ist.
Tatsache ist, wir leben in einem Rechtsstaat. Wird die Würde eines Menschen angegriffen, so wird sie in die Waagschale geworfen. In der anderen Schale liegt eine Strafe, die gerade so schwer wie der Würdeangriff wiegen sollte, um die Verletzung wieder aufzuwiegen und das Gleichgewicht wiederherstellen zu können.
Dabei zahlt der Angreifer seinerseits mit einem Teil seiner Würde für das, was er seinem Opfer genommen hat. Für Vergewaltigung sind es bis zu fünfzehn Jahren Haft. Selbstbestimmung gegen Selbstbestimmung. Das Prinzip klingt fair.
Und unsere Gerichte sagen hoch der Preis ist. Gerade so viel, dass die Waagschalen wieder auf gleicher Höhe sind, und nicht so viel, dass den Täter über seinen Angriff hinaus seine Würde genommen werden würde. Das ist Gerechtgkeit.
Gerechtigkeit. Wieder ein abstrakter Begriff. Und es gibt so viele verschiedene, persönlich empfundene Definitionen. Selten sind sie bei einem Konflikt deckungsgleich. Irgendjemand bleibt seinem persönlichen Empfinden nach immer auf der Strecke. Entweder ist die Strafe nicht hoch genug, um die Würde wiederherzustellen, oder sie war zu hoch, um sie noch als angemessen anzunehmen. Gefühlte Gerechtigkeit und gefühlte Ungerechtigkeit.
Warum? Wahrscheinlich, weil jeder seine Würde über die des Anderen stellt. Und wenn einem Unrecht geschieht, ist es schwer objektiv zu bleiben. Es ist geradezu unmöglich. Daher rührt vielleicht der uralte Wunsch nach Rache. Nach Vergeltung. Auge um Auge. Zahn um Zahn. - Das ist eine Lüge. Es war schon immer ein
Auge um zwei Augen, ein Zahn um zwei Zähne. Unser Auge ist uns immer
wertvoller als das des Anderen. Die Vergeltung fällt meistens höher aus, als das erste Verbrechen, als die erste Würdeverletzung. Was wiederum eine noch größere Rache von der anderen Seite auf den Plan ruft. Und dann noch eine höhere. Und noch höhere. Und so schaukelt es sich hoch, bis alle tot sind. So endet Anarchie.
Nicht umsonst versuchen die Denker und Philosophen diesen Kreis zu durchbrechen. Halt die andere Wange hin, heißt es in der Bibel. Viele verstehen die zweite Wange als Opfer. Als einen Akt der gütigen Selbstopferung zugunsten eines Friedens. So würde der Kreis der gegenseitigen Verletzungen durchbrochen, denken sie. Aber warum sollte man sich noch ein zweites Mal, warum sollte man sich freiwillig doppelt demütigen lassen? Vielleicht ist es aber keine doppelte Demütigung. Vielleicht ist es noch nicht einmal eine gütige Selbstopferung, um den Kreis zu durchbrechen. Ein Angriff, eine negative Aktion gegen einen Anderen, verschwindet nicht einfach. Schon gar nicht, wenn darauf eine Reaktion folgt - und sei es eine positive. Solange man den Angriff nicht als Demütigung, als Verletzung seiner Würde, akzeptiert, solange man daher bereitwillig auch deine zweite Wange hinhält, ist der Angriff da. Er ist nicht aus der Welt. Er kehrt um und der Angreifer demütigt sich selbst. Oder demütigt das Opfer
ihn etwa sogar? Ist das Opfer der passiv Demütigende, indem es den Angreifer dazu bringt, sich selbst zu demütigen? Ist die andere Wange hinhalten, Rache für Fortgeschrittene? Wo ist das Ende dieses verdammten Kreises?
Vielleicht ist dort das Ende, wo wir die Demütigung und die Verletzung der Selbstbestimmung über unsere Versehrtheit hinnehmen. Wo wir unseren Frieden mit ihr machen und sie verzeihen. Denn Vergebung kann ein Weg sein, seine eigene Würde wiederherzustellen und sie auch zu erhalten. Aber Vergebung ist so ein pathetisches Wort. Ich kann es nicht leiden. Es klingt nach Kirche. Es klingt nach Weltfrieden. Es klingt nach dem verzweifelten Versuch leeren Worten Bedeutung einzuprügeln. Aber hier, an dieser Stelle, kann ich kein anderes Wort finden. Hier ist Vergebung wichtig, hier ist sie von Bedeutung. Viele verstehen erst zu spät, dass sie durch die Verletzung der Würde eines Anderen oder die übermäßige Vergeltung, im Grunde nur die eigene Würde angegreifen. Wenn wir selbst ungerecht handeln und Mitmenschen verletzen, dann setzen wir uns selbst herab. Wir nehmen uns selbst die Würde. Das können wir verdrängen, aber manchmal holt es uns eben doch ein. Und dann reuen wir. Wir reuen und wollen Wiedergutmachung leisten. Vielleicht ist das der uralte Wunsch nach Harmonie. Vielleicht tragen wir von Grund auf ein Gerechtigkeitsempfinden in uns, aus dem wir uns selbst nicht ausschließen können. Vielleicht gibt es noch tausend weitere Gründe Reue zu empfinden.
Aber was, wenn es zu spät ist, wenn uns die Erkenntnis schließlich einholt? Diese Reue, die uns uns selbst hassen lässt. Und was, wenn das, was wir taten nicht wiedergutzumachen ist? Wir können nur versuchen Wiedergutmachung zu leisten. Wir können nur versuchen wieder soviel zurückzugeben, wieviel wir genommen haben. Aber was ist, wenn wir alles genommen haben? Dann müssen wir alles geben. Was ist alles? Wir selbst. Und der Kreis ist durchbrochen.
Aber soweit soll es nicht kommen müssen. Es ist ganz gut, dass die Selbstjustiz nicht mehr herrscht, dass der Staat, ein Organ, diese Aufgaben der Aufwiegung von Schuld und Würde für uns übernimmt und wir nicht in diesen nicht enden wollenden Kreisläufen landen. Bis endlich alle tot sind oder sich endlich einer dazu bewogen hat, zu vergeben.
Deswegen ist das Gericht wichtig. Deswegen ist die Staatsanwaltschaft wichtig. Deswegen ist die Exekutive wichtig. Deswegen ist deren Neutralität wichtig. Und deswegen sind Andere wichtig, die darauf ein Auge haben. Die den Finger in die Wunde legen, wenn sie da ist. Und von Schirach hat recht, wenn er sagt, ein Staatsanwalt habe sich in der Presse nicht zu profilieren. Eine staatliche Position muss sich nicht profilieren. Sie hat ein Profil. Und die Person dahinter hat es auszufüllen.
Denn damit das ganze Konstrukt aufgeht, müssen wir an die Staatsorgane, an den Staat und seine Vertreter glauben. Daran, dass sie neutral und gerecht sind und dass die Gesetze, nach denen sie richten, gerecht sind. Ansonsten begeben wir unsere Würde nicht in seine Hände. Ansonsten übernehmen wir die Justiz wieder selbst. Und alles geht von vorne los.
Aber wo liegt nun die Verletzung der Würde des Menschen vor? Dort, wo uns das Recht auf Selbstbestimmung genommen wird? In jeglicher Hinsicht? Körperlicher, sexueller, politischer, geistiger...? Zurück zu von Schirach. Ist die Würde des Menschen, wie in seinem Buch, schon dort angegriffen, wo ihm zum Beispiel eine öffentliche Verleumdung wiederfährt, oder erst, wenn er zulässt, dass diese Verleumdung ihn verletzt und
herabsetzt - erst, wenn er diese Verleumdung als eine solche akzeptiert? Ist sie ihm schon genommen, wenn jemand für ihn entscheidet Nichtraucher sein zu müssen, oder erst, wenn er sich dadurch persönlich eingeschränkt, verletzt oder ungleich behandelt fühlt?
Was die Frage nach dem Rauchverbot in Deutschland angeht, so ist zumindest die Selbstbestimmung des Rauchers damit beschränkt worden. Solange ihm alle Mittel zu einer umfangreichen Informationsbeschaffung zur Verfügung stehen und er die Möglichkeit hat, sich nach einer freiwilligen Recherche bewusst für oder gegen das Rauchen zu entscheiden, ist es perönliche Sache des Einzelnen sich nach seinem Ermessen zu Grunde zu richten oder nicht. Man kann auf den ersten Blick also dem Autor zustimmen, wenn er bemängelt, dass der Staat sich eine bevormundende Rolle herausnimmt. Was von Schirach aber vergisst zu erwähnen, ist die andere Seite: Wird dem im Restaurant sitzenden Nichtraucher nicht ebenfalls seine Selbstbestimmung genommen, wenn er gezwungen wird, passiv zu rauchen?
Warum glaubt von Schirach außerdem, bezüglich des Feminismus sei eine staatliche Reglementierung durch eine Frauenquote vertretbar, bezüglich der Raucher aber nicht? Der Vergleich hinkt nur auf den ersten Blick. Eine Frau zu sein sucht man sich nicht aus, zu rauchen schon. Aber nicht zu rauchen sucht man sich ebensowenig aus. Man wird als Nichtraucher geboren. Das ist Status Null. Soll man nun der Wahrung der Selbstbestimmung der Minderheit an freiwilligen Rauchern wegen, nun gezwungen werden, Passivraucher zu sein? Und was ist mit denjenigen Rauchern, dennen es nichts ausmacht, das Rauchen in Gastronomiebetrieben sein zu lassen? Die sich dadurch nicht in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt fühlen?
Kann denn die Würde des Menschen angetastet werden, ohne dass er es so empfindet oder ohne, dass es ihm bewusst ist? Geht das? Kann dann jemand anders für ihn entscheiden, ob und in welchem Ausmaß seine Würde angetastet worden ist? Ist es mit der Würde vielleicht wie mit der Scham? Wenn der Betroffene sich nicht selbst schämt, schämt sich ein Anderer für ihn? Und wenn er seine Würde nicht als angetastet empfindet, dann fühlt sie jemand Anders für ihn angetastet? Ist das gut? Ist das in Ordnung? Kann er nicht selbst entscheiden,
selbst bestimmen, ob er seine Würde als angetastet empfindet? Kann er nicht
selbst bestimmen, ob er die Antastung hinnimmt? Kann er nicht
selbst bestimmen, ob er die Antastung vergibt?
Ich glaube, die Würde des Menschen ist nur dort antastbar, wo er sie antasten lässt. Aber wie könnte man von einem Individuum auf eine Gesellschaft schließen? Wie könnte man einer Masse von Individuen durch eine einheitliche Definition, gerecht werden?
Wo ist das verdammte Ende dieses verdammten Kreises?